Gewunden wie eine Balkan-Viper, aber gut asphaltiert, schlängelt sich der Weg durchs nordmakedonische Mittelgebirge bis hinauf zum „Taticev kamen“ (Vater-Stein) beim Dörfchen Kokino. Schön ist diese Grenzregion zu Serbien, aber auch bitter arm. Die wenigen Siedlungen wären mehr oder weniger menschenleer, würden sie nicht auch Posten der Grenzpolizei und der Feuerwehr beherbergen. Nun sollen gezielte Investitionen von Regierung und Europäischer Union mehr touristisches Leben in die Region bringen.
Von Wolf Oschlies
Einen viel versprechenden Anfang macht beispielsweise die imposante Kathedrale in dem Örtchen Nagoricani, die komplett restauriert wurde. Wie dieser Flecken, in welchem laut Volksliedern einige der härtesten Scharmützel mit den türkischen Fremdherren des Balkans ausgetragen wurden, schon im 14. Jahrhundert zu dieser Prachtkirche gekommen ist, weiß buchstäblich niemand. Doch nun kann man sich wieder an einigen der schönsten Fresken weithin erfreuen.
Man braucht einige Zeit, das Gebiet nördlich von Makedoniens zweitgrößter Stadt, Kumanovo, als eines der ältesten Kulturgebiete der Menschheit zu entdecken – und dabei von einer Verwunderung zur anderen zu gelangen. In dem kleinen Makedonien gibt es rund 4.000 archäologische Stätten, die zu pflegen das Land nicht annähernd die nötigen Mittel hat. Aber einige dieser Stätten sind so bedeutungsvoll – die antike Stadt Stobi bei der Hauptstadt Skopje, die Siedlung Heraklea beim südlichen Bitola, die altslavischen Kirchen in Ohrid -, dass die internationale Museums- und Archäologengemeinschaft nur zu gern zum Kooperationspartner wird.
Beobachtung der Gestirne – im heißen Balkan eine Überraschung
Das betrifft vor allem Kokino, das seit nahezu einem Jahrzehnt die Fachgemüter im In- und Ausland bewegt. Sagen wir es so: Die Sesshaftigkeit der Urmenschen hing mit deren agrarischen Aktivitäten zusammen, deren Effizienz an exakt geplante Saaten und Ernten gebunden war. Das galt besonders für den kalten Norden, wovon prähistorische Observatorien im schottischen Stonehenge, im mecklenburgischen Boitin und anderswo zeugen: Bereits im Megalithikum, 2.000 Jahre vor Christus, beobachteten unsere Vorfahren den Lauf der Gestirne, um so das beste Timing für Ackern und Mähen zu ermitteln.
So weit, so klar. Aber wer hätte derartige Himmelsexplorationen im heißen Balkan vermutet, wo es auf ein, zwei Wochen im urbäuerischen Kalender doch wirklich nicht ankam? Offenkundig doch, fand 2001 Jovica Stankovski, Museumsdirektor in Kumanovo, als er bei Kokino eine prähistorische Siedlung entdeckte, die reiche Keramikfunde freigab. Aber das war nur die Dreingabe zu einem weit wichtigeren Fund, den 2004 Gjore Cenev, Chef des Skopjer Planetariums, stolz publik machte: „Wir fanden im Massiv des Taticev kamen-Gebirges sieben Markierungen, die auf die extremen Positionen von Sonne und Mond ausgerichtet sind, welche diese im Jahresverlauf einnehmen“. Exakt das war die Sensation von Kokino – der Beweis, dass bereits vor 40 Jahrhunderten die dort lebende Bevölkerung eine sehr solide Kenntnis der Bewegungen von Mond und Sonne im Laufe bestimmter Zeitabschnitte – vom Jahresverlauf - besaß und diese Kenntnis pragmatisch im Alltag einsetzte.
Throne aus Stein – Grundlage für den Himmelskalender
Die sieben Gipfelchen im Vater-Stein-Gebirge heißen seit Urzeiten bei den Einwohnern „prestoli“ (Throne). Deren menschliche Bearbeitung, die sie für die praktische Himmelskunde tauglich machte, begann vor exakt 3.815 Jahren. Das hat der Geologe Cedomir Arsovski mit modernsten Hightech-Geräten herausgefunden. Er und Astronom Cenev sind seither die Stars der Konferenzen „Archaeology of World Megalithic Cultures“. Ihre südosteuropäischen Teilnehmer mächtig stolz sind, dass welche aus ihrer Mitte mit einer Weltsensation wie Kokino aufwarten.
Es handelt sich um eine sehr bodenständige Sensation. Man fand heraus, wie das mit dem Kalender von Kokino so ablief: Zuerst wurden die „prestoli“ so abgerundet, dass sie wie über Kimme und Korn in den Himmel peilten. Und wenn die Peilung den optimalen Zeitpunkt für Landarbeiten ermittelt hatte, wurde auf dem Gipfel ein Riesenfeuer entfacht, das alle Interessierten in 30 Kilometer Umkreis umgehend zur Arbeit rief. Hinzu kommt, dass Kokino nicht nur ein Observatorium war, sondern auch ein Tempel für die Gottheit Sonne, was jeder Beschäftigung dort eine doppelte Bedeutung verlieh.
Seit 2009 auf der NASA-Liste archäologischer Observatorien
Am Fuße der „Throne“, dem megalithischen Observatorium, steht eine große Informationstafel, zweisprachig makedonisch-englisch von der US-Botschaft in Skopje erstellt. Wer boshaft wäre, könnte diese Tafel als einen von wenigen Beweisen dafür werten, dass die Botschaft zu irgendetwas nütze ist. Seit Jahren haben die Amerikaner in der „Kale“, dem Skopjer Festungshügel, ein Botschaftsgebäude errichtet, das mit einem Hochhaus über der Erde und 15 unterirdischen Stockwerken gigantische Ausmaße hat. Warum und wofür das so ist, hat noch niemand ermitteln können, zumal die USA wenige Dutzend Kilometer weiter, im Kosovo, ihr Militärlager Bondsteel unterhalten, von dem aus sie locker ganz Eurasien kontrollieren könnten. – Das ist der Stoff, aus dem der Antiamerikanismus kommt.
Kokino bekam von Anfang an Raum auf britischen Websites, was die Skopjer Bosse zu immer größeren Eigenleistungen veranlasste, ohne die ein Zugang zu internationalen Kulturfonds nicht möglich ist. Inzwischen bekommt Kokino von allen Seiten Zuschüsse, bescheidene zwar, aber was ist in Makedonien schon üppig? Im Übrigen ist das ein verheißungsvoller Anfang: Seit 2009 steht Kokino auf der NASA-Liste archäologischer Observatorien und war auf Platz vier unter 15 Lokationen, gleich hinter weltbekannten Stätten wie Abu Simbel.
Erschienen im Eurasisches Magazin, 2009