Den Mazedoniern wurde schon immer übel mitgespielt

Mit einem nicht auszurottenden Unkraut, der grasähnlichen Quecke, verglich der Mazedonier Petre M. Andreevski seine Landsleute. Sein Roman beschreibt ihr schwieriges Dasein zwischen Lebenswitz und Verzweiflungsmut.



Nach einem Unkraut, der grasähnlichen Quecke, hat der Mazedonier Petre M. Andreevski (1934–2006) seinen jetzt ins Deutsche übersetzten Roman aus dem Jahr 1980 benannt. Als queckenähnlich, nämlich kaum ausrottbar, schildert er die Bewohner der Region Mazedonien, die erst Tito 1944 als Nation anerkannte.

Vor dem Ersten Weltkrieg scheint sie den Nachbarvölkern eine verführerische Beute. Im Ersten Balkankrieg 1912 kämpfen die Serben, die Bulgaren, die Griechen und die Montenegriner gemeinsam gegen die Osmanen um die Region, im Zweiten Balkankrieg 1913 kämpfen alle bis auf die Montenegriner gegeneinander um die Region, und im Ersten Weltkrieg mischen im Kampf um immer noch dieselbe Region auf den verschiedenen Seiten auch noch die Deutschen, die Franzosen und die Türken mit. Den Mazedoniern wird bei alldem übel mitgespielt, sie überleben unter erbärmlichen Umständen.

«Meglenov» und «Meglenović»

Andreevski erzählt, wie das Bauernehepaar Jon und Velika Meglenoska von den Kämpfen zerrieben wird. Nach der Heirat wird Jon – wie alle Männer des Dorfes – eingezogen von den Serben, liegt in Regen und Kälte in den verschiedensten Gräben und muss zwischen den nutzlosen Sturmangriffen ins feindliche Feuer hinein noch froh sein, nur Läusen zum Frass zu dienen.

Im Dorf, dessen Felder nicht mehr bestellt werden können, hungert Velika mit fünf Kindern. Entkräftet werden sie der Reihe nach Opfer bekannter und unbekannter Krankheiten. Einen Arzt gibt es nicht, und Gott traut die zunehmend verzweifelte Velika bald nicht mehr. Ihr einziger Halt ist die Schwägerin Ulja, die Frau von Mirce, Jons Bruder. Mirce und Jon begegnen sich auf dem Schlachtfeld wieder: Mirce dient als «Meglenov» bei den Bulgaren, die den Mazedoniern eine glorreiche Zukunft bringen wollen, Jon als «Meglenović» bei den Serben, die dasselbe vorhaben, weshalb viele der zu Beglückenden die Zukunft erst einmal mit dem Tod bezahlen müssen. «Warum schlagen sie sich nicht daheim», fragt nicht nur Mirce. Jon überlebt den Krieg mit knapper Not, kehrt schwer traumatisiert zurück ins Dorf und verfällt dem Alkohol, als er vom Tod seiner fünf Kinder hört.



Diese düstere Geschichte, in der die Knochenmühle den Basso continuo des gern «nation building» genannten Geschehens gibt, erzählt Petre M. Andreevski ausserordentlich kraftvoll, abwechslungsreich und in einer nie endenden Gegenwart. Abwechselnd schildern Velika und Jon, wer und was ihnen gerade auf durchweg lebensgefährliche Weise mitspielt. Wenig ist es nicht, alles hat sich gegen sie verschworen. Den Kopf zu heben, empfiehlt sich nicht, sonst wird er weggeschossen oder eingeschlagen. Ihn hängen zu lassen, ist auch nicht ratsam: Dann ruht die Arbeit, und der Hunger wühlt noch grimmiger in den Eingeweiden. Wenn es einmal gar nicht weitergeht, hilft einer der vielen Sprüche von Lazor Nočeski, etwa: «Für uns Bauern ist das Glück wechselhaft, das Unglück aber dauert an.» Dieser stets zitierte Lazor Nočeski, das ist einer der subtilen Scherze von Andreevski, tritt nie auf. Nur seine vollends desillusionierten Weisheiten durchziehen den Roman.

Lebenswitz und Verzweiflungsmut besitzen die beiden Protagonisten reichlich, sonst sehr wenig. Hunger und Verzweiflung, die Folgen der jahrelangen grossen Schlachten, vernichten die geschlossene dörfliche Welt. Den Krieg präsentiert Andreevski als groteskes, absurdes Geschehen. In einer Kampfpause baden serbische und bulgarische Soldaten und die Mazedonier gemeinsam im Fluss zwischen ihren Schützengräben. «Für die meisten ist es das zweite Vollbad in ihrem Leben. Das erste war sicher die Taufe in der Kirche.»

Eine Frage der Ehre

In bukolisch-derbe Absätze über das bald schwarz verfärbte Wasser und die sich blähenden langen Unterhosen sind Gesprächsfetzen montiert: Witze, Zoten und Anekdoten über Trottel, Tripper und Tote, Geschichten voller Heimweh nach dem Dorf und von dessen Zerstörung. Bald geht die Flasche reihum, und als der Waffenstillstand endet, stehen manche Trinker noch immer selig mitten im Fluss. Ihr Schutz wird zu einer Frage der Ehre für die Soldaten auf beiden Seiten. Als jeder wieder in seinem Schützengraben liegt, «ist die Hölle losgebrochen».

«Quecke» beginnt mit dem Begräbnis von Velika Meglenoska. Ihr letzter, erst nach Jons Tod geborener Sohn Roden bittet den Trauzeugen seines Vaters, ihm von seinen Eltern zu erzählen. Duko Vendija schlüpft daraufhin abwechselnd in Velika und Jon und lässt sie erzählen. Diese Rahmenkonstruktion nutzt Petre M. Andreevski geschickt, um den Realismus des Dorfromans durch Elemente der Moderne und Postmoderne aufzubrechen. Anders als manche Formexperimente der jugoslawischen Literatur, die in jener Zeit die Postmoderne entdeckt, überspannt er den Bogen nicht.

Benjamin Langer hat «Quecke» in ein knorriges, mal vorsichtig archaisierendes, mal lakonisches Deutsch mit einigen Austriazismen übertragen: ein «Glütel» glimmt, auf dem «Druschplatz» «regenweht» es. Nicht nur der Alltag zwischen Feld und Kuhstall, auch die Geschichte als Verhängnis für jene, die inmitten glühender Nationalismen Emotionen noch gar nicht als Nation empfinden, wird so handgreiflich erfahrbar.

Petre M. Andreevski: Quecke. Roman. Aus dem Mazedonischen von Benjamin Langer. Mit Nachworten von Benjamin Langer und Goce Smilevski. Illustrationen von Valeria Gordeew. Guggolz-Verlag, Berlin 2017. 446 S., Fr. 35.90.

QUELLE: NZZ

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